Ist Kinderarmut in Berlin ein Thema?

In der Koalitionsvereinbarung von SPD und CDU auf Landesebene von 2011 steht das Vorhaben, eine Strategie gegen Kinderarmut zu entwickeln und umzusetzen. Bis heute liegt diese Strategie nicht vor, gerade ist ein Entwurf einer Senats- und Abge-ordnetenhausvorlage zur Stellungnahme verschickt worden. Die Wahlen am 18. 9. 2016 werden die Legislaturperiode beenden, es wird also keine Zeit sein, irgendetwas von dem, was noch vor der Wahl beschlossen werden soll, von dieser Koalition umsetzen zu können.

Ausgangspunkt der Betrachtung ist die Frage: „Wer ist arm?“ Im Bericht wird sich auf die Armutsrisikoquote bezogen. Das heißt, dass knapp jedes fünfte Kind/Jugendliche in Berlin in Haushalten aufwächst, deren Einkommen unterhalb der Armutsrisikogrenze liegt. Das ist nicht verkehrt, doch wirkt beschönigend. Für uns ist arm, wer von staatlichen Transferleistungen abhängig ist und/oder wo die Eltern so wenig verdienen, dass sie davon nicht eigenständig ohne Transfers leben können. Von Transferleistungen abhängig ist in Berlin fast jeder dritte Minderjährige, mehr als 170.000. Weitere 80.000 Minderjährige leben in Familien, die mit Leistungen der Jobcenter aufstocken müssen. Das ist für uns das reale Bild in der deutschen Hauptstadt.

Ähnliche Verhältnisse finden sich in unserem Bezirk. Es ist insgesamt enttäuschend, dass darauf verzichtet wird, konkrete Ergebnisse im Sinne eines strategischen Ansatzes und daraus resultierend Maßnahmen und Projekte zu benennen, obwohl in den Arbeitsgruppen des Senats, an denen viele Vertreter*innen der Bezirke und der Zivilgesellschaft engagiert mitgearbeitet haben, sehr konkrete Vorschläge diskutiert und abgestimmt wurden. Statt Sofort-, mittel- und langfristige Maßnahmen zu entwickeln sollen neue Strukturen ins Leben gerufen werden (Lenkungsgruppe, Geschäftsstelle Armut), ohne deren Kompetenzen, Ausstattung, Zeit- und Maßnahmeplanung festzulegen.

Völlig unverständlich ist, dass der Eindruck erweckt wird, dass eine Strategie gegen Kinderarmut kostenneutral zu haben ist. Selbst wenn Ressourcen der Akteure zusammengelegt werden und mit Synergie-Effekten zu rechnen ist, braucht es doch zusätzliche Ressourcen, um wirksame Maßnahmen, wie z.B. die Abschaffung der Bedarfsprüfung in Kita und Schulhort, umzusetzen. Armutsprävention spielt allenfalls eine sehr untergeordnete Rolle. Sie ist aber gerade im Bereich der Kinder unheimlich wichtig, weil in jungen Jahren die Weichen gestellt werden für die persönliche Entwicklung, für Schulerfolg und ein Leben in Unabhängigkeit und Freiheit.

Der Schlüssel ist der Zugang zu Bildung. Doch der ist in hohem Maße von der sozialen Stellung der Eltern abhängig. Der Senat stellt dieser Erkenntnis keine adäquaten Maßnahmen gegenüber. So ist der Zugang zur Ganztagsbetreuung in der Kita immer noch von der Berufstätigkeit der Eltern abhängig. Das Amt entscheidet über den Umfang der vorschulischen Förderung, nicht die Eltern, nicht der Entwicklungsbedarf des Kindes.

Es wird leider kein Bezug darauf genommen, dass die Stadt sich immer mehr in reiche und arme Stadtteile spaltet. Dieser sozialen Teilung der Stadt entgegenzuwirken ist eine Herausforderung für die Stadtentwicklung einer wachsenden und sich wandelnden Stadt. In der Vorlage fehlt jeder Bezug zu dieser Verantwortung der Stadtentwicklung! Der Vertreibung von ärmeren Bevölkerungsschichten aus ihren angestammten Wohnquartieren hat der Senat bisher nichts entgegengesetzt außer punktuell mit Quartiersmanagementverfahren, die gerade diese Fragestellung eher außen vor lassen.

Diese kurze Beschreibung macht deutlich, dass die Koalition von SPD und CDU ihr selbstgestecktes Ziel weder wirklich angegangen ist und schon gar nicht umgesetzt hat. Aus linker Sicht wären einige Sofortmaßnahmen nötig und auch schnell umsetzbar:

  • Abschaffung der Bedarfsprüfung für Kita und Hort
  • Schrittweiser Einstieg in die Abschaffung der Mittagessengebühr in Kita und Schule
  • Maßnahmen gegen Wohnungsverlust und zur Hilfe bei Obdach- und Wohnungslosigkeit
  • Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre auf Ebene des Abgeordnetenhauses
  • Mehr Personal in den (Jugend-)Ämtern und damit erleichterter Zugang zu Leistungen wie Kitagutschein, Hortplatz, Elterngeld, aber auch Wohngeld.

Der Zugang zu Leistungen, auf die oftmals ein Anspruch besteht, ist dringend zu erleichtern und Antragsverfahren sind zu entbürokratisieren. In der Vorlage ist keinerlei Hinweis darauf enthalten, dass der Senat dieses Thema als wichtig für die Armutsprävention und -bekämpfung identifiziert hat. Wir brauchen eine bessere Ausstattung der Ämter, insbesondere in den Bezirken und, ein ebenso im Bericht vernachlässigtes Thema, eine verlässliche Infrastruktur in den Sozialräumen für Kinder, Jugendliche und Familien.

Übrigens liegen zu diesen Themen Anträge der LINKEN im Berliner Parlament vor, die sämtlich abgelehnt oder bisher nicht behandelt wurden.

Dagmar Pohle
Stellvertretende Bezirksbürgermeisterin und Bezirksstadträtin für Geundheit und Soziales