Auch falsche Entscheidungen müssen respektiert werden

Zur Entscheidung des Direktoriums der Alice-Salomon-Hochschule, das Poem „Ciudad“ (Avenidas) des Dichters Eugen Gomringer von der Fassade entfernen zu lassen, erklärt der stellvertretende Vorsitzende und kulturpolitische Sprecher der Linksfraktion, Olaf Michael Ostertag:

Auch, wenn es im Bezirk viel Aufregung gegeben hat um die Frage, ob der Alice-Salomon-Schule überhaupt das Recht zusteht, über die Gestaltung ihrer eigenen Fassade zu entscheiden: Selbstverständlich ist die Fassadengestaltung in erster Linie Angelegenheit der Hochschule, und diese ist nicht zur Präsentation welches Poems auch immer verpflichtet. Die Linksfraktion hat im Verlauf des die Gemüter über alle Maßen erhitzenden Diskussionsprozesses immer auf die Zuständigkeit der Hochschule hingewiesen. Die Leitung der ASH hat einen demokratischen Prozess zur Entscheidungsfindung etabliert, und dieser Prozess hat ein Ergebnis gebracht. Dies ist zu respektieren.

Etwas anderes ist es, das Ergebnis oder den Anlass gutzuheißen. Arg strapaziert wurde im Debattenverlauf der Begriff „Freiheit der Kunst und Wissenschaft“. Die einen sahen die Kunstfreiheit in Deutschland in Gefahr, wenn das Poem entfernt würde, die anderen sahen die Wissenschaftsfreiheit in Gefahr, wenn die Entfernung verhindert würde.

Beides trifft nicht zu. Es handelt sich vielmehr um eine Episode eines weitaus größeren Problemkreises: Den aktuellen Konflikt zwischen dem Bereich der Wissenschaft und dem Bereich der Kunst. Beide beschreiben die Wirklichkeit, und beide weisen darüber hinaus: Die Kunst will den Blick eröffnen für Denkbares jenseits der Realität, und die Wissenschaft will den Blick eröffnen für mögliche Realitäten jenseits der beschriebenen.

Dabei erkennt der Bereich der Wissenschaft heute im Bereich der Kunst zahlreiche Werke, die ihm als Exponent, und damit Verstärker, von Haltungen erscheinen, die es für die Zukunft zu überwinden gilt: Rassismus, Sexismus, Xenophobie, religiöser Fanatismus und viele mehr. Die fortdauernde Präsentation solcher Werke stehe also im Widerspruch zum Ziel, solche Haltungen zurückzuweisen.

Dabei übersieht der Wissenschaftsbetrieb aktuell, dass der Kunst ebenso das Recht einzuräumen ist, die Wirklichkeit zu beschreiben, wie der Wissenschaft. Nur: In der Kunst liegt die Wirklichkeit im Auge des Schöpfenden und des Betrachtenden, in der Wissenschaft in der Wiederholbarkeit von Forschungsergebnissen. Indem die Wissenschaft die Kunst an ihrer eigenen Elle misst und nicht nach den der Kunst zugehörigen Kategorien, versagt sie ihr im Schluss die Daseinsberechtigung.

Dabei handelt es sich um einen Übergriff der Wissenschaft auf die Kunst.

Selbstverständlich wird in dem Gedicht von Eugen Gomringer ein männlicher Blick auf Frauen rezipiert, der Verweis auf die nicht nähere Bezeichnung des „Bewunderers“ ist bloße Schutzbehauptung. Ebenso selbstverständlich ist es aber auch, dass es sich um eine Beschreibung der Wirklichkeit handelt. Die Wirklichkeit – dass Frauen sich von der Bewunderung männlicher Blicke angegriffen fühlen – wird nicht dadurch aus der Welt geschafft, dass Kunstwerke verborgen werden, die sie darstellen.

Im speziellen Fall ist nicht einmal klar, ob der Blick des Bewunderers von den Bewunderten bemerkt wird, ob also überhaupt eine Interaktion stattfindet. Das Gedicht von Eugen Gomringer hat ausschließlich durch den Einwand der Studentenschaft der Alice-Salomon-Hochschule eine weltweite Bedeutung erlangt, die ihm nicht zukommt. Es wird für immer ein Symbol dafür bleiben, wie weit der Vorwurf des Sexismus Anfang des 21. Jahrhunderts Kunstwerke traf, die bei genauer Prüfung nicht einmal eine Begegnung zwischen den Geschlechtern beschreiben, sondern lediglich eine einseitige Vorstellung davon. Die Gedanken sind frei? Offensichtlich nicht.

Die Studentenschaft der Alice-Salomon-Hochschule hat Recht, wenn sie sagt, dass die Aufregung über ihr Ansinnen nie dieses Ausmaß angenommen hätte, wenn sie die Entfernung nicht mit dem Vorwurf des Sexismus begründet hätte. Das ist richtig, denn hier ist der Vorwurf des Sexismus die Forderung nach Kriminalisierung nicht von Handlungen, sondern von Gedanken. Dass dies besonders heftige Abwehrreaktionen hervorruft, sollte eigentlich nicht verwundern.

Nach meiner persönlichen Auffassung – in unserer BVV-Fraktion gibt es dazu unterschiedliche – war daher der Antrag der CDU-Fraktion richtig, dass im Bezirk an anderer Stelle eine Fassade gesucht wird, an der das Poem „Ciudad“ nunmehr angebracht werden soll. Es möge dem ganzen Bezirk eine Mahnung sein, welche Fragen weiterhin zu klären sind und wie weit uns Debatten führen können. Diesem Antrag habe ich zugestimmt und er ist auch – in der BVV Sitzung vom 22. Februar 2018 – beschlossen worden.

Die Linksfraktion hat mehrheitlich anders abgestimmt, es gab bei uns viele Gegenstimmen und Enthaltungen. Was angesichts einer Debatte um die Freiheit von Kunst und Wissenschaft sehr angemessen ist. Denn die Gedanken sind frei, und ebenso das Abstimmungsverhalten.